Wie der weiße Wahnsinn die deutschen Straßen erobert

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Sie sind riesig, sie kosten manchmal so viel wie ein kleines Haus. Doch Wohnmobile sind die neue große Leidenschaft der Deutschen. Das liegt an der Alterung der Bevölkerung – und an der Terrorangst. Von Steffen Fründt
Nunzio Fiorentino strahlt über das ganze Gesicht. Denn gerade hatte der Autoverkäufer eine Begegnung mit Herrn M. Herr M. zählt zu seinen Lieblingskunden.
Als der pensionierte Schuhunternehmer vor drei Jahren zum ersten Mal das Verkaufsgelände des Bielefelder Reisemobilzentrums Palmowski betrat, erzählt Nunzio, habe der noch nie zuvor ein Campingfahrzeug von innen gesehen. Vom Hof fuhr er mit einem fabrikneuen Reisemobil für einen mittleren fünfstelligen Eurobetrag.
Ein Jahr später kam M. wieder und tauschte das Gefährt gegen einen fast zehn Meter langen, 150.000 Euro teuren Grand Panorama. “Eine kleine Villa auf Rädern!”, schwärmt der Verkäufer. Nun steht die Villa wieder beim Händler, denn M. hat zum dritten Mal gekauft. Diesmal, angeblich der Ehefrau zuliebe, wieder etwas Kompakteres. Aber auch der neue Wagen war nicht ganz billig .
Immer mehr und luxuriösere Mobilheime
Drei Wohnmobile in drei Jahren – auf so eine Frequenz bringt es nicht jeder. Aber es ist auch nicht so, dass solche Kunden die Verkäufer bei Palmowski überraschen. An kauffreudige und zahlungskräftige Kundschaft ist man hier gewöhnt. Beim eigenen Angaben zufolge größten unabhängigen Reisemobilhändler Deutschlands rollt momentan an jedem Tag ein halbes Dutzend Mobilheime vom Hof.
Rund 1500 Fahrzeuge habe man im vergangenen Jahr verkauft, sagt Jörg Henninger, einer der beiden geschäftsführenden Inhaber. Allein in den zurückliegenden fünf Jahren sei der Umsatz des Unternehmens um rund ein Drittel gestiegen.
Gegenwärtig ist wieder Hauptsaison, und nach dem bisherigen Verlauf wird es wohl wieder einen Verkaufsrekord geben. So macht Autos verkaufen Spaß. “Das ist Wahnsinn, was in unserer Branche los ist!”, sagt Henninger.
Der Wahnsinn lässt sich beziffern: 450.000 Reisemobile rollen aktuell auf deutschen Straßen. Zusammen mit den Wohnwagen übersteigt damit die Zahl der zugelassenen Freizeitfahrzeuge erstmals eine Million.
Die deutsche Caravaning-Industrie wächst seit Ende der Finanzkrise Jahr für Jahr und hat ihren Umsatz allein im vergangenen Jahr um fast 15 Prozent auf über 7,5 Milliarden Euro gesteigert – weil mehr Mobilheime zugelassen werden und diese immer luxuriöser und teurer werden. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres lag die Zahl der Neuzulassungen von Reisemobilen um 45 Prozent über dem Vorjahresniveau.
Für größere Mobilheime Lkw-Führerschein
Deutschland erlebt eine Massenbewegung der polarisierenden Art: Für die einen ist die weiße Flotte, die jetzt in der Frühlingssonne aus den Garagen rollt, die große Freiheit auf vier oder mehr Rädern. Andere sehen darin die Mobilmachung des Jogginghosenproletariats auf Adiletten.
Händler Henninger hat gerade einen Bürstner Elegance aufgeschlossen. Ein Koloss auf drei Achsen mit Fußbodenheizung, Granitküche, Kühl- und Eisschrank, Herd, separater Duschkabine und WC und diversen anderen Annehmlichkeiten. 122.999 Euro steht auf dem Verkaufszettel hinter der Windschutzscheibe. Henninger bittet in die Lounge-Sitzgruppe aus beigefarbenem Vollleder.
“Ein paar Hundert Mobile dieser Klasse und noch größere verkaufen wir schon im Jahr”, sagt der Händler. Er weist auf ein neben der Auffahrt geparktes noch größeres Gefährt. “Den Luxusliner dort hat gerade ein Manager gekauft, der zurzeit noch in China arbeitet. Wenn er zurück ist, möchte er mit seiner Frau durch Europa reisen. Erstmal nach Schottland und Norwegen, dann weiter”, erzählt Henninger.
Für das zulässige Gesamtgewicht des Wagens von fast zehn Tonnen brauche man einen Lkw-Führerschein, aber dafür müsse man unterwegs auch auf nichts verzichten. “Schönes Fahrzeug. Lässt keine Wünsche offen”, lobt der Händler. “Kostet aber auch gebraucht noch mehr als 100.000 Euro.”
Der Traum vom VW-Bus wird wahr
Die Ostwestfalen können viele solcher Geschichten erzählen. Von Menschen, viele deutlich in der zweiten Lebenshälfte, die es aus dem deutschen Alltag hinaus auf die Straße zieht. Die für einen Sommer oder den Rest ihres Lebens ein Truckerdasein führen wollen. Immer auf Achse, der Sonne hinterher. Zu Hause in ganz Europa, vom Nordkap bis nach Málaga.
Allerdings mit deutlich größerer Schlafkabine. Nichts scheint manche Deutsche mehr zu locken als das, was die Branche als die große Freiheit verkauft. Wohnmobilisten zahlen den Preis einer Luxuskarosse für Fahrzeuge, in denen Campingagnostiker nur rollende Verkehrshindernisse sehen, die überall im Weg rumstehen, wo andere Menschen Urlaub machen wollen.
“Wohnmobile polarisieren. Einige finden sie ganz und gar großartig, viele andere hingegen einfach nur fürchterlich”, sagt Martin Lohmann, Geschäftsführer des Kieler Instituts für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa, der sich selbst nicht zur Gruppe der Fans zählt.
Umso mehr bestaunt er den Boom der rollenden Heime. “Darin sitzen Menschen aus einer Generation, die in Jugendjahren vom VW-Bus-Urlaub geträumt hat und es sich jetzt leisten kann”, sagt der Psychologe.
Den Deutschen gehen die Reiseziele aus
Seiner Vermutung nach begründet sich die Anziehungskraft der Mobile in ihrer Ambivalenz: “Sie kombinieren die Freiheit, überall hinfahren und anhalten zu können, mit dem sicheren Gefühl, immer seinen vertrauten Rückzugsort dabeizuhaben”, analysiert Lohmann. Hinzu komme, dass Camper eine immer bessere Infrastruktur mit professionellen Ver- und Entsorgungseinrichtungen und teilweise geradezu luxuriöse Campingplätze vorfänden.
Lohmann sieht in dem zunehmenden Komfort und Lkw-großen Gefährten allerdings auch eine Entfernung vom eigentlichen Ziel. “Es konterkariert die Idee von Freiheit, wenn man mit seinem Untersatz keinen Parkplatz mehr findet und in Altstadtgässchen stecken bleibt.”
Die Branche dürften solch kritische Betrachtungen nicht allzu sehr stören. Sie feiert gerade ihre größte Saison. Denn neben Demografie und Outdoor-Wahn spielen ihr derzeit noch zwei globale Faktoren in die Hände: der Terror und die Zinsen. Weil Sparen nicht mehr lohnt und Finanzierungen so billig sind wie nie zuvor, sitzt den Deutschen das Geld lockerer denn je, berichten Händler übereinstimmend.
Hinzu kommt nun, dass den reiselustigen Deutschen so langsam die Ziele ausgehen. Einstmals beliebte Destinationen wie die Türkei oder Nordafrika versinken nach und nach im Terror.
Selbst Offroad-Wohnmobile werden gekauft
Dann doch lieber Urlaub auf dem Campingplatz. “Die Menschen suchen Alternativen zu Flugreisen. Bei uns finden sie die Sicherheit und Flexibilität, die sie suchen”, sagt Jörg Reithmeier, Vorstandsmitglied beim wichtigsten deutschen Reisemobilhersteller. Die Erwin Hymer Group , unter deren Dach acht verschiedene Reisemobil- und Caravanmarken gefertigt werden, macht deutlich, was für ein großes Rad die einstige Nischenbranche mittlerweile dreht.
Das Unternehmen betreibt allein in Deutschland sechs Produktionsstätten sowie weitere in Frankreich und Italien. Der Umsatz lag im jüngsten Geschäftsjahr bei 1,5 Milliarden Euro und dürfte auch in diesem Jahr wieder zweistellig wachsen, so Reithmeier. Denn der Handel habe dem Marktführer die aktuelle Produktion im Voraus praktisch komplett abgekauft. “Wir nehmen schon Aufträge für das nächste Jahr an.”
Bei Hymer freut man sich nicht nur über die alternde Gesellschaft, weil damit auch die Hauptzielgruppe wächst. Neuerdings reüssiert die Branche zunehmend in anderen Zielgruppen. Auch, weil die Mobile cooler werden. Häkeldeckchen und fleckverzeihende Polsterhöllen sieht man nur noch bei älteren Baujahren. In Neufahrzeugen entspricht die Inneneinrichtung dem, was man auch in Möbelhäusern schick findet. Edle Materialien, kühle Designs.
Außerdem fahren sich die Wohnmobile besser als früher. “Design und Fahreigenschaften orientieren sich zunehmend am Pkw, weil immer mehr Kunden ihr Mobil auch als Alltagsfahrzeug verwenden”, berichtet Reithmeier, dessen Unternehmen massiv Mitarbeiter einstellt – auch weil es nun plötzlich IT-Experten braucht, die Klimaanlagen und Induktionsherde mit einem Tablet vernetzen können.
Auch vierradgetriebene Offroad-Wohnmobile werden mittlerweile gebaut und gekauft. “Die Kunden wollen schließlich auch mal ins Gelände.” Das Wachstumspotenzial sieht der Manager noch lange nicht ausgereizt. “Wir orientieren uns eher an der Kreuzfahrtbranche – die hat ihre Umsätze in den vergangenen Jahren verzehnfacht.”
Wohnmobile sprechen andere Zielgruppen an als Wohnwagen
So erlebt eine Branche, die lange eher für Trutschigkeit und Zivilisationsflucht stand, eine dramatische Aufwertung. Lange Zeit bestand die Caravaning-Industrie fast ausschließlich aus kleinen und mittelständigen Wohnwagenbauern. Ihren ersten großen Boom erlebten sie in der 80er-Jahren, als die Deutschen es plötzlich schick fanden, einen Caravan hinter den Ford Taunus zu spannen und mit dem Gespann über den Brenner nach Italien zu zuckeln.
Motorisierte Wohnmobile, für die zum Beispiel in den USA schon viel länger ein riesiger Markt besteht, fristeten lange ein Nischendasein. Doch das hat sich mittlerweile komplett gedreht. Seit 2007 werden in Deutschland mehr Reisemobile als Wohnwagen neu zugelassen. Und der Vorsprung wächst, seit Hersteller immer mehr Modelle hervorbringen, die Zielgruppen ansprechen, welche für die Caravaning-Industrie vorher unerreichbar waren.
Das Neuzulassungsfeuerwerk vom Jahresanfang ist größtenteils darauf zurückzuführen, dassVW und Mercedes neue Modelle ihrer Campingbuslinien “California” und “Marco Polo” an die Händler ausgeliefert haben. Dabei handelt es sich um teure Zwitterwesen, die zugleich Familienvan und Minimal-Wohnmobil sind.
So ein Bulli in Luxusausführung kostet schon mal 100.000 Euro. Trotzdem ist die Nachfrage offenbar extrem groß. Wenn Journalisten von Caravaning-Messen berichten, zeigen sie gerne die Luxusschiffe mit Parkgarage für den Zweitwagen.
TV-Spots sollen den Imagewandel vorantreiben
Doch das größte Absatzwachstum wird bei den kleinen Modellen generiert. Zum Wohnmobil umgebaute Kastenwagen machen bereits 35 Prozent der Neuzulassungen aus. “Van-Conversions sind der Turbolader der Branche”, sagt Hans-Karl Sternberg, der Geschäftsführer des Industrieverbandes CIVD.
Zu den typischen Kunden der Branche zählten zunehmend auch junge Familien oder gut verdienende Freiberufler. Der Verband ließ teure TV-Spots drehen, um den Imagewandel voranzutreiben. Die schönen Menschen, die darin Weingüter und einsame Meeresbuchten ansteuern, sind eindeutig keine Rentner.
“Wir holen die Kunden immer früher ab”, sagt Burkhard Schwarz, der im Norden von Hamburg in zweiter Generation einen Freizeitmobilhandel betreibt, der mittlerweile zu einem riesigen Zentrum mit 240 Fahrzeugen auf 40.000 Quadratmetern angewachsen ist. Natürlich boomt das Geschäft auch bei ihm.
“Wir liegen in diesem Geschäftsjahr 20 bis 25 Prozent über dem Vorjahr. Das ist irre!”, freut er sich. Der ideale Kunde durchlebe bei ihm eine mehrschrittige Camping-Biografie. Vom Iglu-Zelt für 700 Euro über den ausklappbaren Wohnanhänger zu immer komfortableren Vehikeln.
Erst mieten, dann kaufen
Angefixt werden viele Campingeinsteiger heute durch den Verleih. Der hat sich in den vergangenen Jahren zu einem profitablen Geschäftsbereich der Branche entwickelt, der noch schneller wächst als das Verkaufsgeschäft.
Burkhard Schwarz zum Beispiel hat eine Vermietungsflotte aus 64 Fahrzeugen, die für den kommenden Sommer schon jetzt so gut wie ausgebucht ist. Zu seinen Kunden zählen nicht allein deutsche Familien, sondern beispielsweise auch Australier, die sich über einen Tour-Operator ein Mobilheim buchen, um damit von Deutschland aus den hohen Norden zu erkunden. “Skandinavien ist gerade sehr gefragt”, sagt Schwarz.
Das Vermietungsgeschäft ist für den Handel auch deshalb attraktiv, weil viele Kunden nach dem Schnupperurlaub mehr wollen. “Ein zweistelliger Prozentsatz bleibt hängen und legt sich ein eigenes Mobil zu.” Angesichts von mehreren Tausend bestens gebuchten Mietmobilen und Caravans ist die Massenmobilisierung auf deutschen Straßen wohl noch lange nicht zu Ende.